"Alle psychisch kranken Menschen müssen Hilfe erhalten können"
Interview der Ärzte Zeitung mit BPtK-Präsident Munz
Ärzte Zeitung: Telefonische Erstbehandlungen von Hilfesuchenden werden Psychotherapeuten nicht bezahlt. Sie sind eigentlich sogar laut Berufsordnung unzulässig. Warum wollen Sie diese Regel knacken?
Dr. Dietrich Munz: Alle psychisch kranken Menschen müssen Hilfe erhalten können. Wenn es auf Grund der Corona-Pandemie nicht möglich ist, einen ersten Kontakt persönlich oder per Video herzustellen, muss ausnahmsweise auch ein telefonisches Gespräch möglich sein. Die psychotherapeutische Versorgung darf nicht systematisch Patientengruppen ausschließen. Deshalb muss es eine telefonische Beratung und Behandlung für Neuerkrankte geben können. Dies ist umso notwendiger, weil viele andere Hilfsangebote wie zum Beispiel tagesklinische Behandlungen und Angebote von Beratungsstellen derzeit wegfallen.
Sie haben sich per Brief an Gesundheitsminister Jens Spahn gewandt. Was hat er Ihnen in Aussicht gestellt?
Munz: Bisher haben wir auf unsere Anfrage noch keine Rückmeldung. Wir hoffen aber auf seine Unterstützung. Unser Eindruck ist das er die erheblichen psychischen Belastungen, die mit der Pandemie verbunden sind, sehr deutlich sieht.
KBV-Chef Gassen hält telefonische Erstbehandlungen für nicht hilfreich. Warum können Sie ihn nicht vom Sinn einer solchen Regelung überzeugen?
Munz: Wir hoffen, dass er noch einmal darüber nachdenkt, dass Neuerkrankte nicht systematisch von professioneller Hilfe ausgeschlossen werden dürfen. Insbesondere ältere Menschen verfügen oft nicht über die technischen Voraussetzungen, per Videotelefonat behandelt zu werden. Darunter sind eine große Zahl dementer Menschen, aber auch Menschen mit starken körperlichen Einschränkungen.
Anderseits sind zum Beispiel Über-70-Jährige bisher so gut wie nicht in ambulanter psychotherapeutischer Behandlung. Nicht wenige erleben aufgrund ihrer chronischen und vielfachen Erkrankungen die allgegenwärtige Ansteckungsgefahr jedoch mit Todesangst. Dies verschlimmert ihre ohnehin schon häufigen depressiven Symptome. Der grundlegende Ausschluss einer besonders gefährdeten Personengruppe in dieser Notlage ist unverantwortlich. Dabei sehen wir telefonische Erstkontakte selbst sehr kritisch. Sie sind in normalen Zeiten nach unserer Berufsordnung sogar untersagt. Aber im Moment ist alles anders. Unsere Patienten brauchen uns und wir stellen uns in dieser Krisensituation der Herausforderung.
Wie viele Menschen haben vor dem Ausbruch der Coronakrise telefonisch bei Psychotherapeuten um eine Beratung oder Behandlung gebeten?
Munz: Hierzu liegen uns leider keine Zahlen vor. Vor der Corona-Pandemie war die Sprechstunde allerdings der Weg, auf dem unsere Patienten Kontakt zu einem Psychotherapeuten aufgenommen haben.
Welche Rückmeldungen haben Sie zum aktuellen Bedarf an telefonischen Erstsprechstunden?
Munz: Wir erhalten täglich Anfragen von Mitgliedern mit der Bitte, telefonische Behandlungen zu ermöglichen. Oft wird darauf verwiesen, dass die Internetverbindung oder gerade bei älteren Patienten die technische Ausstattung für eine Videobehandlung nicht ausreicht. Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten berichten, dass Homeoffice, Homeschooling, aber auch die Anforderung an die Videobehandlung die soziale Spaltung im Land verstärkt. Familien mit niedrigen Einkommen können sich das technische Equipment schlicht nicht leisten.
Würden durch psychotherapeutische Sprechstunden per Telefon den Kassen zusätzliche Kosten entstehen? Oder müsste hier innerhalb von ärztlichen Budgets umverteilt werden?
Munz: Wenn die jetzt gefundene Lösung für telefonische Behandlung und Beratung auch auf Erstkontakte ausgeweitet würde, entstünden den Krankenkassen keine zusätzlichen Kosten da diese Leistung über die morbiditätsbedingte Gesamtvergütung finanziert wird. Dann allerdings würden die Psychotherapeuten dieses Beratungsangebot quasi selber bezahlen. Wir fordern daher auch diese Leistungen extrabudgetär zu vergüten.
Wären Hausbesuche eine Alternative für den Start der Behandlung? Um dann in die telefonische Regelbehandlung einsteigen zu können.
Munz: Grundsätzlich sind für einen Teil der Patienten Hausbesuche für das Erstgespräch vorstellbar. Jedoch können damit nicht diejenigen erreicht werden, die in Quarantäne sind oder wegen eines Erkrankungsrisikos keinen persönlichen Kontakt zur Psychotherapie haben können.
Veröffentlicht am 16. April 2020