Diotima-Ehrenpreis 2024
Prof. Dr. Silvia Schneider und Peter Lehndorfer haben den Diotima-Ehrenpreis der deutschen Psychotherapeutenschaft 2024 erhalten
Peter Lehndorfer und Prof. Dr. Silvia Schneider
Am 14. November 2024 wurden in Berlin Peter Lehndorfer, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, und Prof. Dr. Silvia Schneider von der Ruhr-Universität Bochum mit dem Diotima-Ehrenpreis der deutschen Psychotherapeutenschaft geehrt. Beide haben sich in besonderer Weise um die psychotherapeutische Versorgung von Kindern und Jugendlichen verdient gemacht. Zur Preisverleihung erschienen zahlreiche Vertreter*innen der Psychotherapeutenschaft, aus der Bundespolitik sowie aus Forschung und Wissenschaft. Musikalisch begleitet wurde die Preisverleihung von Dirk Flatau am Klavier.
Psychisch gesund Aufwachsen in Deutschland
»Die Stärkung der in den letzten 20 Jahren stark geschwächten psychischen Gesundheit von Heranwachsenden ist angesichts der Herausforderungen des demografischen Wandels zentral“, erklärte Prof. Dr. Sabine Walper, Direktorin des Deutschen Jugendinstituts, in ihrem Festvortrag. Als Hauptrisikofaktoren für die Entwicklung psychischer Auffälligkeiten nannte Walper sozioökonomische Belastungen, Trennung oder Scheidung der Eltern, psychische und Suchterkrankungen in der Familie sowie emotionalen Missbrauch und Vernachlässigung. Kämen mehrere Risikofaktoren zusammen, kumuliere das Risiko für die Entwicklung psychischer Erkrankungen deutlich. Aber auch die Zunahme von „Onlinezeiten“ habe Einfluss auf die psychische Gesundheit der Heranwachsenden. Hierbei sei die Zeit allein kein guter Indikator für den ungünstigen Einfluss auf die psychische Gesundheit, relevant seien vielmehr die Inhalte, mit denen Kinder und Jugendliche sich online beschäftigen. Walper mahnte dringend mehr Investitionen in Verhaltens- und Verhältnisprävention an. Eine Schlüsselrolle komme dabei „communities that care“ zu. Gemeinsam und langfristig müssten in den Kommunen, in Kindergärten und Schulen, Familien und Nachbarschaft bekannte Risikofaktoren für schulische Probleme, Depressionen, Gewalt oder Drogenkonsum reduziert werden, um ein gesundes Aufwachsen aller zu ermöglichen. Auf Verhaltensebene sei insbesondere die Stärkung der Selbstregulationskompetenzen von Kindern und Jugendlichen wichtig, da diese eine wichtige Voraussetzung für das Erleben von Autonomie, Verbundenheit und Selbstwirksamkeit sei.
Podiumsdiskussion:
Preisträger*innen diskutieren mit Bundespolitik und Krankenkassen
Sabine Rieser, Fachjournalistin für Gesundheits- und Sozialpolitik, führte durch das Podiumsgespräch mit der Frage, wie Psychotherapeut*innen zu einem psychisch gesunden Aufwachsen beitragen können.
Die Preisträgerin Prof. Schneider plädierte dafür, Psychotherapie neu zu denken. In alle Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen müsse die Psychotherapie integriert werden. Ganz essenziell sei es, Gesundheit, Bildung und Jugendhilfe eng zusammenzudenken. „In den letzten zehn Jahren ist im Bereich Prävention nichts dazugekommen, was wir nicht schon wissen. Wir müssen unser Wissen endlich in der Regelversorgung umsetzen, statt immer weiter neue Projekte aufzusetzen“, forderte Silvia Schneider.
Preisträger Peter Lehndorfer unterstrich, dass Psychotherapeut*innen, diejenigen Kinder und Jugendlichen stärker in den Blick nehmen müssten, die nicht von sich aus den Weg in die Praxis fänden. Häufig kämen sie aus Familien, in denen vielfältige Risiken für die Entstehung einer psychischen Erkrankung kumulierten, wie zum Beispiel chronische Erkrankungen der Eltern, Armut oder geringere Bildung. „Manchmal müssen Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten auch Dinge tun, bevor hierfür geeignete Rahmenbedingungen entstanden sind, zum Beispiel Beratungsangebote an Schulen oder Hausbesuche machen, appellierte Lehndorfer an seine Kolleg*innen.
Ulrike Bahr, SPD-Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende des Familienausschusses im Deutschen Bundestag, forderte, dass Gesundheits- und Familienpolitik, Krankenkassen und Fachleute gemeinsame und aufeinander abgestimmte Lösungen entwickeln müssen, um die Sektoren zu überwinden. „Das Podium heute, auf dem Psychotherapeut*innen, Politik und Krankenkassen zusammensitzen und diskutieren, wie es gehen kann, ist ein Fortschritt und ein guter Anfang“, sagte Bahr.
Dem stimmte auch Dr. Kirsten Kappert-Gonther, Grünen-Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende des Gesundheitsausschusses des Deutschen Bundestages, zu. Eine Stärkung des Versorgungsangebots für Kinder und Jugendliche sowie Mental Health in all Policies müssten vorangetrieben werden. Das seien Ziele auch für die nächste Legislaturperiode. „Das Präventionsparadox darf uns nicht daran hindern, mehr in Prävention zu investieren. Jeden Euro, der in die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen investiert wird, erhält die Gesellschaft mehrfach zurück“, erläuterte Kappert-Gonther.
Allianzen seien notwendig, um gemeinsam gesundes Aufwachsen in den Lebenswelten zu ermöglichen. Für die Krankenkassen sei Prävention ein wichtiges Anliegen. „Es muss noch mehr dafür sensibilisiert werden, was es heißt, wenn Versicherte krank und arbeitsunfähig werden, und welche Folgekosten hier auf uns zukommen“, schloss Stephanie Bosch vom Dachverband der Betriebskrankenkassen ab.
Preisverleihung
Peter Lehndorfer: Anwalt psychisch erkrankter Kinder und Jugendlicher
»Peter Lehndorfer hat sich immer als Anwalt psychisch kranker Kinder und Jugendlicher verstanden. Seinem berufs- und gesellschaftspolitischen Engagement verdanken wir insbesondere, dass es ein auf Kinder und Jugendliche spezialisiertes psychotherapeutisches Versorgungsangebot in Deutschland gibt“, würdigte BPtK-Vizepräsident Dr. Nikolaus Melcop die Verdienste Lehndorfers in seiner Laudatio.
Als gelernter Sozialpädagoge hat Peter Lehndorfer Hilfen zur Unterstützung psychisch gesunden Aufwachsens zunächst in der Jugendarbeit kennengelernt. Früh hat er erkannt, dass einige Kinder und Familien mehr brauchen und sich deshalb psychotherapeutisch zum analytischen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten weiterqualifiziert, um in eigener Praxis für Kinder und Jugendliche an Münchens Stadtgrenze zu praktizieren. Neben seiner eigenen Professionalisierung hat er mit seinem jahrzehntelangen ehrenamtlichen Engagement auch die Professionalisierung der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie in ganz Deutschland stetig vorangetrieben. Sei es bei der Schaffung eines eigenen Heilberufs mit dem Psychotherapeutengesetz 1999 als auch eines einheitlichen Psychotherapeutenberufs auf Masterniveau für alle Altersgruppen im Rahmen der Reform der Psychotherapeutenausbildung. Aber auch die Mindestquote für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie in der Bedarfsplanung, durch die über tausend zusätzliche Kassensitze entstanden sind, ist ein Erfolg, bei dem Peter Lehndorfer maßgeblich mitgewirkt hat. Eine Herzensangelegenheit sind für ihn zudem Kinder psychisch erkrankter Eltern. Diese Gruppe hat er in die allgemeine Aufmerksamkeit gerückt. Noch immer muss viel Arbeit geleistet werden, damit sie wirksame Hilfen in der Regelversorgung erhalten. Das gilt auch für die Aufarbeitung sexueller Gewaltverbrechen an Kindern und Jugendlichen in Institutionen, wie der katholischen Kirche. Lehndorfer wirkt als Mitglied der Unabhängigen Kommission für Anerkennungsleistungen der Deutschen Bischofskonferenz aktiv mit. „Bei all seinem Engagement war Peter Lehndorfer stets streitbar und ausgleichend zugleich und ist damit immer noch ein Vorbild für viele Kolleg*innen“, so Melcop.
Prof. Dr. Silvia Schneider: Treibende Kraft für die psychische Gesundheit Minderjähriger
»Prof. Dr. Silvia Schneider hat mit ihrer Arbeit maßgeblich zur Implementierung und Weiterentwicklung einer evidenzbasierten Psychotherapie beigetragen. Dass die klinische Kinder- und Jugendpsychologie heute fester Bestandteil der universitären Ausbildung ist, ist auch ihr Verdienst“, hob BPtK-Präsidentin Dr. Andrea Benecke in ihrer Laudatio hervor.
Seit 2010 ist sie Professorin für klinische Kinder- und Jugendpsychologie an der Ruhr-Universität Bochum (RUB) und eine wichtige Wegbegleiterin der wissenschaftlichen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie. Das Forschungs- und Behandlungszentrum der RUB ist zudem 2021 als einziger Standort unter psychotherapeutischer Leitung Teil des Deutschen Zentrums für Psychische Gesundheit geworden.
Ihre Beiträge zur Ätiologie und Behandlung von psychischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen haben nicht nur den wissenschaftlichen Diskurs bereichert, sondern auch das Leben von Kindern und Jugendlichen nachhaltig verbessert. Prof. Silvia Schneider belässt es nicht bei der wissenschaftlichen Arbeit im „Elfenbeinturm“. Mit partizipativen und innovativen Forschungsansätzen entwickelt sie praxistaugliche Lösungen für die psychotherapeutische Prävention und Versorgung. Wie in einem aktuellen Forschungsprojekt „Urban Mental Health”, in dem gemeinsam mit Politik und Praxis Programme zur Förderung der seelischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen im Bochumer Stadtteil Wattenscheid entwickelt und implementiert werden. Anders als üblich startet die Projektarbeit nicht mit einem von Forschenden vorgegebenen Präventionsprogramm. Vielmehr setzen die Wissenschaftler*innen bei den Berichten sowie den Wünschen und Erwartungen der Praxispartner*innen an, um maßgeschneiderte Schulungsmodule zu entwickeln, die damit in einer hohen Akzeptanz und Anwendbarkeit resultieren und implementierbar sind. Silvia Schneider hat sich auch um den psychotherapeutischen Nachwuchs verdient gemacht. Sie hat unzählige Studierende inspiriert und ihnen das Rüstzeug mitgegeben, um evidenzbasierte Methoden in ihrer zukünftigen Arbeit anzuwenden. Ihr didaktisches Geschick und ihr therapeutisches Vorbild haben dazu beigetragen, dass aus ihren Ausbildungsteilnehmenden hochqualifizierte Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen geworden sind. „In einer Zeit, in der psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen zunehmen, ist Silvia Schneider eine unverzichtbare Stimme und eine treibende Kraft für positive Veränderungen“, so Dr. Benecke.
Veröffentlicht am 25. November 2024