Prävention und Frühintervention bei Alkoholerkrankungen
Symposium der BPtK am 10. April 2019
Der Pro-Kopf-Konsum von Reinalkohol liegt mit 13 Litern in Deutschland deutlich höher als im übrigen Europa und sinkt langsamer als in vielen Nachbarländern. Mehr als 3 Millionen Menschen in Deutschland sind abhängig von Alkohol oder trinken Alkohol in schädlichen Mengen. Etwa die Hälfte dieser alkoholkranken Menschen wird durch unser Gesundheitssystem nicht erkannt und nur 10 Prozent der alkoholabhängigen Menschen erhalten eine suchtspezifische Behandlung. Alkoholstörungen verursachen nicht nur erhebliche Kosten im Gesundheitswesen, sondern auch volkswirtschaftliche Kosten durch lange Krankschreibungen und Frühverrentungen. Wirksame Präventionsmaßnahmen, wie eine höhere Besteuerung von Alkohol oder ein Werbeverbot für alkoholische Getränke werden in Deutschland trotzdem nur unzureichend umgesetzt.
»Umso wichtiger ist es, dass problematischer Alkoholkonsum frühzeitig erkannt wird“, stellte Dr. Dietrich Munz, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK), in seiner Begrüßung fest, und zwar „auch in der psychotherapeutischen Versorgung“. Das Symposium der BPtK widmete sich deshalb der Frage, was Gesundheitspolitik und Gesundheitssystem in Deutschland gemeinsam für eine bessere Prävention von Alkoholstörungen tun könnten. Dr. Munz appellierte an die eigene Profession, den Alkoholkonsum auch in der psychotherapeutischen Versorgung systematisch abzufragen. Als Unterstützung für die Praxis hat die BPtK eine Leitlinien-Info „Alkoholstörungen“ herausgegeben, die auch auf der Homepage der BPtK heruntergeladen werden kann.
Moderator Dr. Nikolaus Melcop, Vizepräsident der BPtK, begrüßte ausdrücklich auch die Gäste aus dem europäischen Ausland, die sich am Tag zuvor bei einem Netzwerktreffen des „Network for Psychotherapeutic Care in Europe“ über Prävention von Alkoholstörungen ausgetauscht hatten.
Alkoholstörungen entwickeln sich früh
Epidemiologischen Studien zufolge liegt die Hochrisikophase für die Entwicklung einer Alkoholstörung bereits im zweiten Lebensjahrzehnt, in den Jahren zwischen 15 und Anfang 20. Wer in diesen Lebensjahren zu viel trinke, habe ein erhöhtes Risiko, später eine Alkoholabhängigkeit zu entwickeln. Anzeichen dafür seien ein erhöhter Zeitaufwand für Beschaffung, den Konsum oder die Erholung von den Folgen des Alkoholkonsums sowie eine körperliche Gewöhnung an Alkohol („Toleranz“) und eine verminderte Kontrollfähigkeit des Alkoholkonsums in diesem Alter. Wirksame primäre und sekundäre Präventionsmaßnahmen müssten deshalb bereits bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen ansetzen, forderte Dr. Silke Behrendt von der Süddänischen Universität. Die Studien zeigten ferner, dass auch der frühe Erstkonsum von Alkohol zu einem höheren Risiko für eine spätere Abhängigkeit führe. Wichtig sei es deshalb, dass so spät wie möglich mit dem Erstkonsum begonnen werde und die Aufmerksamkeit insbesondere auf Jugendliche mit besonders frühem Erstkonsum zu richten.
Eine weitere Gruppe, die bisher nur ungenügend in den Blick genommen werde, seien die älteren und alten Erwachsenen. In einer zunehmend älter werdenden Gesellschaft steige auch der Anteil älterer Erwachsener mit Alkoholstörungen. Risikofaktoren für die Entwicklung einer Alkoholstörung im Alter seien Schmerzerleben, Verlusterfahrungen, Pensionierung und Einsamkeit. Epidemiologische Daten zur Häufigkeit von Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit im Alter fehlten aber noch weitgehend.
Die wirksamsten Maßnahmen zur Verhältnisprävention zu wenig umgesetzt
Die drei wirksamsten Maßnahmen zur Verhältnisprävention von Alkoholstörungen, die auch von der WHO empfohlen würden, sind Preiserhöhungen, eine Beschränkung der Verfügbarkeit sowie ein Verbot von Werbung und Marketing für alkoholische Getränke. Die Minderung des Gesamtkonsums an Alkohol bewirke gleichzeitig auch eine Verringerung der starken Trinker und der Alkoholgebrauchsstörungen. „Obwohl diese Maßnahmen nicht nur kosteneffektiv, sondern auch verhältnismäßig günstig und leicht zu implementieren sind, werden sie in der Europäischen Union nur wenig umgesetzt“, konstatierte Prof. Dr. Jürgen Rehm, der an der Technischen Universität Dresden und am Centre for Addiction and Mental Health in Toronto tätig ist. Dabei liege der Standard in Deutschland im europäischen Vergleich besonders niedrig. Außer einer Altersgrenze für den Verkauf von Alkohol sowie einem Verbot, Alkohol unter dem Marktpreis zu vertreiben, gebe es in Deutschland keine weiteren Restriktionen.
Politik setzt eher auf den Einzelnen als die gesetzlichen Rahmenbedingungen
Die Podiumsdiskussion machte deutlich, dass die Vertreter der Politik weniger auf die wirksame Verhältnisprävention als auf Verhaltensprävention, d. h. einen anderen Umgang des Einzelnen mit Alkohol, setzen. Preiserhöhungen für Alkohol wurden einstimmig eher kritisch von den drogen- und suchtpolitischen Sprechern von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der LINKEN sowie der FDP gesehen. Alkohol dürfe nicht zum Luxusprodukt werden, dass sich nur noch bestimmte Teile der Gesellschaft leisten könnten, meinten übereinstimmend Dr. Kirsten Kappert-Gonther (MdB) von den GRÜNEN und Niema Movassat (MdB) von der LINKEN. Auch der drogenpolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion Dr. Wieland Schinnenburg (MdB) warnte, sich von Preiserhöhungen nicht zu viel zu versprechen. Werbeverbote befürworteten dagegen die Sprecher von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN als auch der LINKEN. So solle nach dem Willen von Kappert-Gonther die Alkoholwerbung bei Sportereignissen verboten werden. Auch für Niema Movassat waren „6- bis 7-Jährige mit Brauereiwerbung auf dem Trikot ein Unding“.
Verhältnispräventive Maßnahmen seien politisch nur dann umsetzbar, wenn in der Gesellschaft das Bewusstsein für die gesundheitlichen Risiken eines zu hohen Alkoholkonsums wachse, so Schinnenburg. Hierfür gelte es, das gesellschaftliche Klima zu verändern. Es sei doch bemerkenswert, dass es bei gesellschaftlichen Anlässen häufig nur auf Nachfrage möglich sei, ein nicht-alkoholisches Getränk zu erhalten. Um das Bewusstsein für die Gefahren des Alkohols in der Gesellschaft zu erhöhen, setzten die Bundestagsabgeordneten deshalb auf eine bessere Aufklärung sowie effektive Früherkennungsmaßnahmen eines problematischen Alkoholkonsums und entsprechende Interventionsmaßnahmen. So wurde die Einführung eines flächendeckenden Screenings befürwortet, es sei letztlich aber die Aufgabe der Selbstverwaltung bzw. des Gemeinsamen Bundesausschusses, dieses in der Versorgung einzuführen.
Früherkennung und Frühintervention in der Praxis
Alkoholprobleme enttabuisieren
Für eine bessere Prävention und vor allem Früherkennung von Alkoholproblemen sei es notwendig, dass diese enttabuisiert werden. Wiebke Schneider, die frühere Geschäftsführerin von Guttempler Deutschland, betonte in ihrem Beitrag, dass Betroffene früher erkannt und Hilfe suchen würden, wenn mit dem Mythos Alkohol als „Kulturgut“ und mit dem Mythos „Sucht sei eine Krankheit ohne Ausweg“ aufgeräumt würde. Die ungenügende Umsetzung von Maßnahmen der Verhältnisprävention liege nicht daran, dass der hohe Alkoholkonsum in Deutschland keine Probleme verursache, sondern eher daran, dass es hierfür keine Lobby gebe. So frage sie sich, warum trotz der Größe des Problems noch kein „Präventionsziel: Alkoholkonsum reduzieren“ verabschiedet worden sei. Verstärkt in den Blick nehmen müsse man auch Kinder aus sucht- oder psychisch belasteten Familien. Es sei bekannt, dass diese Kinder ein erhöhtes Risiko hätten, später selbst eine Suchterkrankung zu entwickeln. Sinnvolle Verhaltensprävention sei ressourcen- und resilienzorientiert und vermittele vor allem Lebenskompetenz. Dabei mangele es nicht an wirksamen Konzepten, aber an ihrer flächendeckenden Umsetzung.
Pakt: Kein Jugendlicher geht verloren
Frederik Kronthaler, Geschäftsführer für den Bereich Suchthilfeangebote für Jugendliche und junge Erwachsene bei Condrobs e.V. München, beschrieb, wie von Condrobs Eltern und Jugendlichen, die aufgrund Alkoholmissbrauchs in einem Krankenhaus versorgt werden mussten, umgehend und intensiv Beratung und Hilfe angeboten werden. Er betonte, der frühe Beginn des Konsums als Risikofaktor für spätere Alkoholprobleme sei in der Regel rückblickend bei den Erziehungsinstanzen bekannt gewesen. Eltern wendeten sich häufig aber zu spät an Beratungsstellen oder andere Institutionen. Gemäß dem Ziel, dass kein Jugendlicher verloren gehen darf, sollten gesellschaftliche Instanzen wie z. B. Schulen, Ausbildungseinrichtungen, Vereine und andere Peergroups Erziehungsverantwortung übernehmen und mit den geeigneten Hilfestrukturen auf regionaler Ebene kooperieren. Zudem seien verbindliche kommunale Kooperationsverträge und konkrete Vereinbarungen zur Fallführung und zum Schnittstellenmanagement auf Ebene einzelner Versorgungsregionen notwendig.
Der Hausarzt als erster Ansprechpartner
80 Prozent der Menschen mit einer Alkoholabhängigkeit hätten mindestens einmal im Jahr Kontakt mit ihrem Hausarzt, aber nur 15 Prozent suchten in einem Jahr eine Suchtberatungsstelle auf. Dem Hausarzt komme daher für die Früherkennung von Alkoholproblemen und die Frühintervention eine wichtige Rolle zu, erläuterte Prof. Dr. med. Markus Herrmann, MPH, M.A., Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeinmedizin an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Das Ziel der ärztlichen Intervention nach dem Erkennen eines riskanten Alkoholkonsums in der Hausarztpraxis müsse die Förderung der Änderungsmotivation sein und bei entsprechender Indikation die Vermittlung zur Weiterbehandlung an geeignete Stellen. Die Zusammenarbeit zwischen Hausärzten und Psychotherapeuten könne am besten vor Ort auf der Ebene des persönlichen Kontakts gestärkt werden. Beide Professionen könnten von gegenseitigen Rückmeldungen profitieren.
Psychotherapeutische Sprechstunde nutzen
Gute Möglichkeiten zur Früherkennung und Frühintervention seien mit der psychotherapeutischen Sprechstunde gegeben. Psychotherapeuten sollten das Thema Suchtmittel in der Praxis offensiv ansprechen, riet Ralf Jansen, niedergelassener Psychotherapeut in Birkenwerder mit langjähriger Erfahrung in der stationären Suchtbehandlung. Die Sorge vor Stigmatisierung sei bei Patienten und Behandlern oft gleichermaßen vorhanden. Ein zu frühes Ansprechen des Alkoholkonsums in der Sprechstunde und Probatorik könne zu starkem Widerstand führen, gemäß dem Motto: „Deswegen bin ich doch nicht hier!“ Ein Nichtbeachten von riskantem Konsum könne jedoch dazu führen, dass Patienten nicht optimal behandelt werden, z. B. wenn Alkoholkonsum während der laufenden Therapie weiter zur Emotionsregulierung eingesetzt werde. Es empfehle sich, den Alkoholkonsum auch schon in der ersten Sprechstunde offen anzusprechen, z. B. indem man frage: „Wie ist denn ihr Umgang mit Alkohol?“ oder bereits hier den AUDIT-C mit drei Fragen einzusetzen. Spätestens in der vertieften Sprechstunde oder Probatorik solle der Suchtmittelgebrauch aber explizit erfasst und diagnostisch eingeordnet werden. Bei riskantem oder schädlichem Alkoholkonsum solle man eine Konsumpause kritisch erwägen und sich dabei an den 10 Stunden, die die Richtlinie bis zum Erreichen einer Abstinenz fordere, oder an dem Kontingent der Kurzzeittherapie 1 orientieren. Erfahrungsgemäß sei der bisherige Konsum problemlos einstellbar oder es zeigen sich im Verlauf der 10 Sitzungen Probleme, die auf eine Abhängigkeit hinweisen würden, oder es träten Widerstände beim Patienten auf, die dann gemeinsam besprochen werden sollten.
Veröffentlicht am 14. Mai 2019