Prävention und Frühintervention bei Alkoholerkrankungen
Internationaler Round Table der BPtK am 9. April 2019 in Berlin
(English Version available on http://www.npce.eu/)
In Europa wird weltweit am meisten Bier, Wein und Hochprozentiges getrunken. Insbesondere junge Erwachsene konsumieren häufig zu viel Alkohol. Alkoholmissbrauch fördert Gewalt, tötet und erhöht durch zahlreiche Folgeerkrankungen die Sterberate. Mehr als zehn Prozent aller Todesfälle in Europa sind durch Alkoholmissbrauch verursacht. 12 Millionen Bürger der EU sind alkoholabhängig, rund 9 Millionen Kinder leben mit alkoholkranken Eltern zusammen. In Bezug auf die Prävention von Alkoholmissbrauch gibt es in einigen Mitgliedsländern zwar ermutigende Beispiele, es fehlt aber eine effektive, europaweite Strategie zur Steuerung des Konsums und des Verkaufs von Alkohol. Sowohl in der ambulanten als auch der stationären Versorgung von Alkoholkranken kann Psychotherapie einen wichtigen Beitrag leisten, sie findet jedoch noch viel zu selten statt.
Das sind die zentralen Ergebnisse des Round-Table-Gesprächs „Prävention von und Frühintervention bei Alkoholstörungen – aus Best-Practice-Beispielen in Europa lernen“, das von der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) in Kooperation mit dem Network for Psychotherapeutic Care in Europe (NPCE) am 9. April 2019 in Berlin stattfand. Daran beteiligt waren internationale Experten aus Belgien, Bulgarien, Frankreich, Irland, Italien, Litauen, Österreich, Polen, Portugal, Rumänien, Ungarn, der Schweiz, Zypern und Deutschland.
Möglichkeiten und Grenzen einer europäischen Alkoholpolitik
BPtK-Vizepräsident Dr. Nikolaus Melcop unterstrich sowohl die Notwendigkeit von wirksamer Verhältnisprävention von Alkoholmissbrauch als auch der frühzeitigen Erkennung und Behandlung von gefährdeten bzw. erkrankten Menschen. In Deutschland setze die Alkoholpolitik zu einseitig auf Aufklärung und Verhaltensprävention. Andere EU-Mitgliedstaaten praktizierten erfolgreich eine effektivere Alkoholpolitik mit Preiskontrollen, Werbeverboten und Abgabebeschränkungen. Solche Länder sähen jedoch die Wirksamkeit ihrer Vorschriften durch weniger aktive Nachbarn gefährdet. Deshalb seien ergänzend transnationale Lösungen erforderlich, weil die EU-Bürger sehr mobil seien und im EU-Markt wechselseitige Abhängigkeiten bestünden.
Auf europäischer Ebene müsse z. B. sichergestellt werden, dass Alkoholika verbindlich, transparent und verbraucherfreundlich gekennzeichnet werden. Der derzeit auf dem Tisch liegende Vorschlag der alkoholproduzierenden Industrie zur Kennzeichnung der Inhaltsstoffe werde jedoch weder den gesundheitlichen Anforderungen noch dem Verbrauchschutz gerecht. So sollen auf dem Produkt nur wenig aussagekräftige Hinweise erfolgen. Weitergehende Informationen müsse der Verbraucher im Internet abrufen. Es sei absehbar, dass solche Vorschläge zur Selbstregulierung effektive Lösungen nur verzögerten. Die Gesundheit der Bevölkerung müsse aber Vorrang vor wirtschaftlichen Interessen haben.
Die EU ist ausdrücklich verpflichtet, die öffentliche Gesundheit zu verbessern und Krankheiten vorzubeugen. In Artikel 168 Absatz 1 Satz 4 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) heißt es: „Die Union ergänzt die Maßnahmen der Mitgliedstaaten zur Verringerung drogenkonsumbedingter Gesundheitsschäden einschließlich der Informations- und Vorbeugungsmaßnahmen.“ Zudem können das Europäische Parlament und der Rat auf Grundlage des Artikels 168 Absatz 5 AEUV insbesondere Maßnahmen erlassen, „die unmittelbar den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung vor Tabakkonsum und Alkoholmissbrauch zum Ziel haben“.
Das Europaparlament und der Rat haben der Kommission in den letzten Jahren mehrfach einen Auftrag zur Verabschiedung einer neuen Alkoholstrategie erteilt.
Expertenrunde
In der Expertenrunde wurden zuerst die spezifischen Bedingungen in den einzelnen Ländern, Forschungsergebnisse und gute Beispiele aus der Praxis vorgestellt. Im Anschluss daran wurden gemeinsame Vorschläge für eine Verbesserung von Prävention, Früherkennung und Behandlung erarbeitet.
Österreich (Dr. Alfred Uhl),
Dr. Alfred Uhl, stellvertretender Abteilungsleiter des „Kompetenzzentrum Sucht“ am Österreichischen Gesundheitsinstitut „Gesundheit Österreich“, verwies auf das sehr erfolgreiche Programm „Sucht am Arbeitsplatz“. Er betonte, dass sich der Umgang mit Alkohol in der österreichischen Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten verbessert habe und der Konsum moderater geworden sei. Allerdings seien die Effekte einzelner Maßnahmen methodisch schwierig zu evaluieren. Wichtig seien nicht-ideologische, patientenorientierte und nach individuellen, die Bedürfnisse diversifizierte Ansätze.
Portugal (Dr. Jorge Gravanita und Patrícia António Brilhante)
Der Alkoholkonsum in Portugal bewegt sich zwar im europäischen Durchschnitt, das zunehmende Konsumverhalten von Frauen und Älteren gebe jedoch Anlass zur Sorge, so die Experten Patrícia António Brilhante von der Lisbon Alcoholic Unit ARSLVT und Dr. Jorge Gravanita, Präsident des portugiesischen Verbandes der Klinischen Psychologen (SPPC). Wichtig sei der Einbezug der Familie in die Therapie. Junge Menschen benötigten Führung durch Erwachsene, um ein gesundes Verhältnis zum Alkoholkonsum zu entwickeln. Es sei notwendig, Psychotherapeuten stärker in neuen Methoden auszubilden und innovative Programme zu entwickeln. Die Arbeit der Psychotherapeuten in der Suchtbehandlung und der Behandlung seelischer Leiden allgemein müsse in allen Ländern noch sichtbarer werden.
Zypern (Maria Karekla, PhD)
Auch Maria Karekla von der Universität Zypern unterstrich die Bedeutung eines gesunden Maßes beim Alkoholkonsum. Alkohol könne Teil der Lebensgewohnheiten sein, ohne dass hier ein besonderer Reiz und daran anknüpfend ein Alkoholmissbrauch erfolge. Wichtig seien eine bessere Aufklärung und Sensibilisierung für die Gefahren. Für die therapeutische Versorgung seien Krankenhaus- und ambulante Versorgung gleichermaßen wichtig sowie eine ausreichende Notfallversorgung.
Italien (Pierangelo Sardi)
»Alkoholkonsum wird oft verharmlost, dabei ist er für mehr Verkehrsunfälle verantwortlich als illegale Drogen und Medikamente, und muss wirksamer bekämpft werden”, erläuterte Pierangelo Sardi, ehemaliger Präsident der Nationalkammer der italienischen Psychologen. Das EU-Projekt DRUID (Driving under Influence of Drugs, Alcohol and Medicines) habe gezeigt, wie wichtig die psychotherapeutische Behandlung Posttraumatischer Belastungsstörungen nicht nur der Opfer, sondern auch der Täter sei. Die Vertraulichkeit des psychotherapeutischen Gesprächs, die durch die Organisation des Berufsstandes in einer Kammer gewährleistet werde, sei dabei ein wichtiger Garant für die Behandlung, unterstrich Sardi.
Rumänien (Roman Viorel)
Roman Viorel arbeitet seit 2002 bei der Allianz für den Kampf gegen Alkoholismus und Drogenmissbrauch (ALIAT), eine der führenden Nichtregierungsorganisationen in Rumänien im Suchtbereich, als Vorstandsmitglied, Projektleiter, Geschäftsführer und Psychologe. Neben professioneller Hilfe durch multiprofessionale Teams vor Ort bietet ALIAT Onlineberatung und eine App zur Selbsthilfe an. „Es ist wichtig, Menschen dort zu treffen, wo sie sind – online und in der Community – und nicht darauf zu warten, dass jemand Hilfe aufsucht“, so Viorel. Hilfreich seien gesetzliche Maßnahmen wie die Null-Toleranz-Politik der Regierung gegen Alkohol am Steuer und das Verbot, Alkohol an öffentlichen Plätzen zu trinken.
Polen (Iga Jaracewska)
Die Promillegrenze für Alkohol im Straßenverkehr liegt in Polen bei nur 0,2. Der Verkauf und die Werbung für Alkohol sind nur eingeschränkt erlaubt. Als Vorbild für europaweite Maßnahmen gegen Alkoholmissbrauch könnten die Kampagnen bezüglich des Tabakkonsums dienen. Dabei sei eine wertebasierte, nicht einschüchternde Vorgehensweise wichtig, führte Iga Jaracewska, u. a. Trainerin des polnischen „Motivational Interviewing Network of Trainers”, aus.
Deutschland (Dr. Nikolaus Melcop)
BPtK-Vizepräsident Dr. Nikolaus Melcop verwies auf die Erfolge von Kampagnen wie „Lieber schlau als blau“, die sich an Jugendliche richtet und die „Aktionswoche Alkohol“, die 2019 unter dem Motto: „Alkohol? Weniger ist besser“ steht. Insgesamt setze die Politik in Deutschland jedoch zu ausschließlich auf Selbstkontrolle und die Eigenverantwortung des Einzelnen. Die Einführung wirksamer und in anderen Ländern bereits erprobter Maßnahmen der Verhältnisprävention wie z. B. Werbebeschränkungen scheiterten bisher an mangelnder Resonanz in der Politik. Das Suchthilfesystem in Deutschland ist im weltweiten Vergleich sehr gut ausgebaut, dennoch gebe es auch hier noch Verbesserungsbedarf, insbesondere in der Prävention und Früherkennung.
Irland (Vasilis S. Vasiliou, PhD)
Irland steht beim Rauschtrinken an zweiter Stelle weltweit. Alkoholkonsum und übermäßiges Trinken nimmt auch bei der weiblichen Bevölkerung zu. Gesetzliche Eingriffe, wie eine Erhöhung der Alkoholsteuer und strengere Vorschriften für den Verkauf von Alkohol, steuern hier seit 2018 gegen. Dr. Vasilis S. Vasiliou, Forscher am University College Cork (UCC), stellte die Best-Practice-Beispiele MiUSE (My Understanding of Substance & Alcohol use Experiences) und REACT (Responding to excessive alcohol consumption in third-level) vor, die interaktiv auf Verhaltensänderungen unter Studenten abzielen.
Schweiz (Veronica Isabel Defièbre)
Auch die Schweizer setzen in ihrem föderal organisierten System vorwiegend auf Information und Selbstkontrolle, z. B. mit der nationalen Kampagne gegen Alkoholmissbrauch „Wie viel ist zu viel?“. Es gibt erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Kantonen. Deshalb führen z. B. Begrenzungen bei den Öffnungszeiten zu Ausweichreaktionen in weniger restriktive Kantone. Entwicklungsbedarf sieht Veronica Isabel Defièbre vom Vorstand der Assoziation Schweizer Psychotherapeuten (ASP) bei der Unterstützung von Alkoholkranken im Alltag, zum Beispiel durch Hausbesuche von Sozialarbeitern, durch betreute Lebensformen und in der psychotherapeutischen Langzeitbehandlung chronisch Alkoholkranker.
Länderberichte
In Belgien wird auf dem Produkt bildlich auf die Gefahren des Alkoholkonsums für Schwangere hingewiesen. Nachahmenswert erscheint die Vorgehensweise zur Früherkennung: Ein Arzt kann einen Patienten, bei dem er Probleme mit zu hohem Alkoholkonsum vermutet, gezielt an eine eintägige Beratung und Vorsorgeuntersuchung verweisen. Die Autoren des Berichtes, Dr. Salvatore Campanella und Dr. Hendrik Kajosch vom Centre Hospitalier Universitaire Brugmann in Brüssel, betonen die zentrale Bedeutung der Veränderung kultureller Muster. „Trinken hat ein positives öffentliches Image und wird in Belgien gesellschaftlich akzeptiert, der Konsum von Starkbier wird als Zeichen der Männlichkeit beworben: ‚If you can’t beer it, you are not strong enough'”.
In Bulgarien werden per Gesundheitsgesetz ein Prozent der staatlichen Einnahmen aus Tabakerzeugnissen und alkoholischen Getränken zur Finanzierung nationaler Programme zur Eindämmung des Rauchens und des Alkoholmissbrauchs eingesetzt. Die Behandlung der Alkoholsucht sei in vielerlei Hinsicht problematisch, so Svetlana Nikolova, Koordinatorin des Teams der Nationalen Drogen-, Alkohol- und Glücksspielhelpline Bulgariens und PhD Svetlana Velkova, Klinische Psychologin an der Fracarita Bulgarien, einem Verein für die Rehabilitation von Abhängigen. Es gebe z. B. zu wenig Mittel, nur sehr wenige Alkoholiker erhielten eine psychologische Beratung, es herrsche Personalmangel. Die Autorinnen verweisen auf die kulturellen Unterschiede im Umgang mit Alkohol. „Man fragt sich in Bulgarien nicht: Soll ich trinken, sondern eher: Wie viel sollte ich trinken, um nüchtern zu bleiben?“.
In Litauen sind seit 2018 Werbespots für Alkohol in allen Medien verboten, die Öffnungszeiten für den Kauf von Alkohol wurden verkürzt und das gesetzliche Alter, ab dem Alkohol gekauft werden kann, wurde von 18 auf 20 Jahre heraufgesetzt, alle alkoholischen Getränke müssen Warnhinweise über die Gesundheitsgefahren aufbringen, z. B. zum Zusammenhang zwischen Alkoholkonsum und Krebserkrankungen. Die Grenze für die Alkoholkonzentration im Blut beim Autofahren wurde auf 0,4 Promille herabgesetzt. Die klinische Psychologin Elena Gaudiesiute betont: „Wirklich positiv ist die Möglichkeit, qualitativ hochwertige Hilfe über die nationale Krankenversicherung zu bekommen. Deshalb können auch Menschen, die ein geringes oder gar kein Einkommen haben, Hilfe bekommen“.
Frankreich verfügt über ein gut entwickeltes Stufenmodell der Behandlung, notwendig sei aber, so die Experten Barak Raz, Dr. Dominik Straub und Dr. Martine Schmuck vom Suchtzentrum ROANNE in Lyon, den Fokus noch stärker auf Prävention und die Einbindung der Familie in die Behandlung zu legen: „Die bestehenden Behandlungsmöglichkeiten konzentrieren sich auf den Einzelnen, vernachlässigen aber oft den familiären Aspekt. Es bedarf einer weitergehenden Psychotherapie, die darauf abzielt, das Leiden und Trauma zu bekämpfen, das oft multigenerationell auftritt“.
In Ungarn habe der Alkoholkonsum tiefe kulturelle Wurzeln, es habe eine der höchsten Raten des starken episodischen Trinkens und die höchsten Raten an Leberzirrhose in Europa. Die Kosten einer Psychotherapie seien nicht durch die Krankenkasse abgedeckt. Die Mehrheit der Fachkräfte des Gesundheitswesens setze in der Alkoholtherapie auf medikamentöse Behandlung. Es fehle eine politische Strategie. Neben der hohen gesellschaftlichen Akzeptanz starken Trinkens fehle es auch in den Medien an Aufmerksamkeit, so die Experten PhD MátéKapitány-Fövény, Prof. Dr. Zsuzsanna Elekes und Dr. Zsolt Demetrovics.
Alkoholpreis und -verfügbarkeit
Die Teilnehmer waren sich darüber einig, dass ein moderater Alkoholkonsum erlernt werden müsse und dass Alkohol nicht so einfach verfügbar sein dürfe. Länder mit höheren Preisen und strengeren Abgabenregelungen haben einen deutlich niedrigeren Pro-Kopf-Alkoholkonsum als die Länder, in denen er preiswert ist. Höhere Preise sind wirksam, um die Alkoholsucht zu reduzieren.
Es gibt bereits viele gute Beispiele zur Aufklärung über die Gefahren des Alkoholkonsums und wie eine allgemeine psychische Widerstandskraft insbesondere von Jugendlichen gestärkt werden kann. Solche Maßnahmen müssen in allen Entwicklungsphasen, von der Schule bis in die Hochschule, flächendeckend implementiert werden. Die Universitäten sollten stärker in die Entwicklung solcher Maßnahmen einbezogen werden.
Gefährdung frühzeitig erkennen und umfassend versorgen
Aus therapeutischer Sicht besteht dringender Handlungsbedarf, eine Alkoholgefährdung durch Screening rechtzeitig zu erkennen und Alkoholkranke bedarfsgerecht, d. h. gestuft, integriert und koordiniert unter Einschluss der Nachsorge für chronisch Alkoholkranke, zu versorgen. Die Therapie darf sich nicht auf die rein körperliche Entgiftung beschränken, Entzug und Entwöhnung müssen zusammengehen und psychotherapeutische (und psychosoziale) Interventionen einschließen.
Von positiven Einzelbeispielen zur europaweiten Strategie
Die Diskussion zeigte auch: Die Probleme und Herausforderungen sind überall ähnlich. Der Umgang mit der legalen Droge Alkohol beeinflusst in allen europäischen Ländern massiv den Gesundheitszustand der Bevölkerung. In den Mitgliedsländern gibt es ermutigende Beispiele, wie dem Alkoholmissbrauch vorgebeugt werden kann, es fehlt aber eine europaweite effektive Politik zur Steuerung des Alkoholkonsums. Deshalb ist es wichtig, dass die nach den Europawahlen im Herbst neu gebildete EU-Kommission den Auftrag annimmt, eine neue Alkoholstrategie aufzulegen. Diese könnte den Rahmen für einen strukturierten Dialog zwischen den Mitgliedstaaten schaffen und auch finanzielle Ressourcen bereitstellen, um den Austausch über bewährte Verfahren zu unterstützen. Sie sollte die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung nationaler Vorschriften unterstützen und auf mittlere Sicht bewährte Steuerungsansätze europaweit implementieren.
Veröffentlicht am 04. Juli 2019