Europa
Digitalisierung und Künstliche Intelligenz in der Psychotherapie
Wie wirken sich die Digitalisierung des Gesundheitswesens und Anwendungen Künstlicher Intelligenz auf die psychotherapeutische Versorgung in Europa aus? Diese Frage wurde gemeinsam mit Expert*innen beim jährlichen Symposium des Network for Psychotherapeutic Care (NPCE) am 29. Mai 2024 diskutiert.
Dr. Nikolaus Melcop, Vizepräsident der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK), eröffnete die Veranstaltung und legte dar, dass mit der jüngst vom EU-Parlament beschlossenen Verordnung eines EU-Gesundheitsdatenraums ein europaweites Regelwerk geschaffen wurde, das den Austausch von digitalen Gesundheitsdaten ermöglicht, aber auch die Datennutzung für Forschungszwecke erleichtert, die insbesondere auch für die Entwicklung von KI-Anwendungen in der Gesundheitsversorgung von großer Bedeutung sind. Die Digitalisierung des Gesundheitswesens und der Einsatz von nachweislich wirksamen und sicheren digitalen Anwendungen müssen sich immer am Nutzen für die Patient*innen ausrichten und nicht von kommerziellen Interessen dominiert werden, so Dr. Melcop. Denn digitale Anwendungen können die Versorgung psychisch kranker Menschen nur verbessern, wenn sie in die psychotherapeutische Versorgung vor Ort eingebettet sind. Insbesondere mit Blick auf Anwendungen mit Künstlicher Intelligenz stelle sich die Frage, inwiefern diese in der Psychotherapie eingesetzt werden können und welche ethischen Aspekte berücksichtigt werden müssen.
Auf diese Frage ging Prof. Dr. Harald Baumeister, Universität Ulm, ein. Der Psychologische Psychotherapeut forscht zu digitalen Anwendungen in der Versorgung psychisch kranker Menschen. Er zeigte auf, dass die Entwicklung von KI-basierten Anwendungen bereits seit den 1950er Jahren erfolgt. Wenn man heute über KI-basierte Anwendungen in der Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen spreche, seien dies in der Regel aber keine echten KI-Anwendungen, sondern lediglich Algorithmen. In der Versorgungspraxis spiele KI daher bisher noch keine Rolle. KI-basierte Chatbots und Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGAs) könnten zukünftig die psychotherapeutische Versorgung ergänzen. Bisher gebe es jedoch keine oder nicht ausreichende Belege ihrer Wirksamkeit und dass sie sicher sind. Auch in der Diagnostik könnten KI-Tools unterstützend eingesetzt werden. Ethische Aspekte in der KI-Entwicklung müssten dabei jedoch berücksichtigt werden, etwa dass die KI-Anwendung Diskriminierung nicht reproduziert, transparent ist und keine Fehlinterpretationen liefert. Aber auch gesetzliche Normen zum Datenschutz und zur Privatsphäre beeinflussen, wie KI-Anwendungen entwickelt werden. Angesichts der großen Investitionen, die die USA und Asien tätigen, würden KI-Anwendungen zukünftig vor allem kommerziellen Interesse entspringen. KI biete jedoch die Chance, dass neue Erkenntnisse über psychische Erkrankungen gewonnen und die Entwicklung von individuellen Behandlungen, das heißt einer noch präziser auf die Patient*in abgestimmten Psychotherapie, optimiert werden könnten.
Im Mittelpunkt der anschließenden Diskussion stand die Frage, welche Risiken bei KI-Anwendungen in der Psychotherapie berücksichtigt werden müssen. Wichtig sei – darin waren sich die Teilnehmenden einig – dass sich die Profession von Anfang an und kontinuierlich in die KI-Entwicklung einbringt, KI-Anwendungen prüfen und beurteilen kann, welche KI-Anwendungen potenziell für Patient*innen geeignet und sicher sind.
Maria Karekla, Universität Zypern, stellte heraus, dass Studienergebnisse immer eine durchschnittliche Patient*in beschreiben. Dadurch gingen individuelle Aspekte, die für die Behandlung wichtig sein könnten, verloren. Man müsse in der Behandlung aber auch stärker die individuelle Perspektive einbeziehen. Dies werde dadurch erschwert, dass Patient*innen im Alltag differenzierte Symptome wahrnähmen, die sie aber retrospektiv in der Psychotherapiesitzung nicht immer alle einbringen können. Dadurch gingen wichtige Erkenntnisse verloren, die aber mit einem digital gestützten Monitoring erfasst und auch von Psychotherapeut*innen in die Behandlung einbezogen werden könnten. Es gebe bereits viele digitale Anwendungen, die dafür genutzt werden könnten. Ein Beispiel sei die Rauchentwöhnung. Digitale Anwendungen könnten dazu beitragen, dass die Erfahrungen und Probleme der Patient*innen bei der Rauchentwöhnung eingeordnet werden und die Patient*in motivieren könnten, am Ball zu bleiben. Auch virtuelle Realitäten können aus ihrer Sicht zukünftig ein Mittel sein, um in der Psychotherapie bestimmte herausfordernde Situationen zu simulieren und die Patient*in unmittelbar anzuleiten, wie sie diese bewältigen können. Die Bandbreite digitaler Anwendungen sei, von Apps bis hin zur virtuellen Realität, groß und könne Chancen für die Versorgung bieten. Allerdings entscheide sich erst im Verlauf der Weiterentwicklung, inwieweit sie für die Patientenversorgung tatsächlich geeignet und hilfreich sind.
Anschließend tauschten sich die Teilnehmenden über aktuelle Entwicklungen in den Ländern Europas aus. Der Einsatz digitaler Anwendungen und die Entwicklung neuer Produkte schritten kontinuierlich voran. Der Markt werde vor allem von der Industrie bestimmt, die sehr schnell Produkte bereitstelle. Bei diesem Tempo sei es der öffentlichen Forschung und Entwicklung kaum möglich mitzuhalten. Für Psychotherapeut*innen sei es daher unabdingbar, dass sie über Kenntnisse und Leitlinien verfügen, auf deren Grundlage sie evidenzbasierte und für Patient*innen sichere und nützliche digitale Anwendungen erkennen und in der Versorgung einsetzen können.
Veröffentlicht am 27. Juni 2024